Die alten Lieder sind verklungen
Volkstanz und Volkslied sind in Deutschland ein fast verlorenes Kulturgut – Ob und wie sie wiederbelebt werden können, ist fraglich
Wer tanzt heute noch deutschen Volkstanz? Je nach Region ist dies höchst unterschiedlich. In Bayern etwa sind Volkstänze und Volksmusik nach wie vor beliebt, vor allem in den Dörfern. In ganz Berlin dagegen gibt es ganze zwei Volkstanzgruppen, die auch noch an Überalterung leiden. Generell gilt deutscher Volkstanz in der jüngeren Bevölkerung längst als altmodisch und uncool, sofern er überhaupt noch bekannt ist. Dem will Roby, 31, aus einem kleinen brandenburgischen Dorf etwas entgegensetzen. Seinen Namen und seinen Wohnort möchte er nicht nennen. „Damit hatte ich schon schlechte Erfahrungen, vor allem bei Linken bis Antifa“, sagt er und bittet um Entschuldigung. Roby hat eine Volkstanzgruppe gegründet, in der sich Interessierte, von der 25-jährigen jungen Frau aus dem Dorf bis hin zum Seniorenehepaar, regelmäßig im Gutshaus zum Tanz treffen.
Roby schildert, wie er schon in seiner Kindheit in den 1990er-Jahren zum ländlichen, althergebrachten Leben fand. „Meine Eltern schickten mich damals zu den Pfadfindern.“ Kinder und Jugendliche sollten raus in die Natur. Das sei gesünder als Playstation spielen im Plattenbau oder kiffen im Jugendclub. Roby erzählt: „Da wurde noch musiziert und getanzt.“
Wenn man Sender heute anfragt, warum keine deutschen Volkslieder gespielt werden, nicht mal bei Kultursendern, bekommt man zur Antwort: Das wollen unsere Hörer nicht. Verständlich: Erst von den Nazis vereinnahmt und nach dem Krieg in deutschen Heimatfilmen verkitscht, erscheinen deutsche Volkslieder bis heute als Relikte aus einer anderen Zeit und gelten bei manchen doch auch als Volkstümelei. Nur noch einige der Ältesten verbinden damit schöne Erinnerungen an ihre Kindheit.
Könnte es sein, dass diese Musik dem Ohr des Hörers entwöhnt wurde? Roby verweist auf die Hausmusik, die früher in den Familien gang und gebe war. Und bei der Volkslieder gesungen und mit Instrumenten begleitet wurden, zu einer Zeit, als es noch keinen iPod und kein Radio gab. Roby sagt: „Weil es heute kaum noch Hausmusik gibt und in den Schulen kaum noch gesungen wird und das Lernen von Schulstoff, Gedichten, Liedern oder Instrumenten als Last empfunden wird, ist es schwierig, sich für das Volkslied zu begeistern.“
Nicht nur die Musikwelt, auch die Dorfstruktur hat sich in den letzten 70 Jahren stark verändert. Früher gab es praktisch in jedem kleinen Ort eine Dorfkneipe oder einen Dorfkrug mit Tanzsaal, und viele trafen sich dort wöchentlich zum Tanz. Die deutschen Schlager, die dann gespielt wurden, kannte jeder. Das hat sich längst gewandelt. Roby erinnert sich an eine Anekdote: „Auf der Geburtstagsfeier meiner 80-jährigen Großmutter wünschte sie sich, dass wir etwas singen. Als die Mehrheit ,Happy Birthday’ anstimmte, sagte sie ,danke’, war aber enttäuscht.“ Anschließend wurde ,Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten’ gesungen, den Text kannten aber nur noch die über 50-jährigen“, erinnert sich Roby. „Die Enkel saßen lachend herum, ihnen war das merkwürdig, unangenehm, peinlich.“ Eine andere Anekdote, die exemplarisch für viele steht: Ein Chorleiter aus Niedersachsen, der mit seinem Chor auf Konzertreise in Litauen war, wurde von den Gastgebern gefragt, ob er ein typisch deutsches Volkslied singen könne. Er musste verneinen, was ihm sichtlich peinlich war, und sang dann mit seinem Chor ein Lied der Beatles vor.
Interessant ist manchmal ein Blick von außen auf die deutsche Liederszene. Im Jahr 2011 erkundete
der neuseeländische Musiker Hayden Chisholm in einem Film die Spielarten der deutschen Volkslieder, der Film trägt den Titel „Sound of Heimat“. „Das, was in Deutschland abgeht, ist mir immer noch ein bisschen fremd“, sagt Chisholm im Film. „Ich möchte verstehen, warum die Leute ein Problem mit der Volksmusik haben. Dieselben Menschen, die in den Anden feuchte Augen bekommen, wenn ein alter Indio zum tausendsten Male ,El Condor Pasa’ in seine Panflöte bläst. Die kriegen Pickel, wenn man sie auf die Melodien ihrer Heimat anspricht ...“
Während in Westdeutschland das deutsche Volkslied nach und nach in Vergessenheit geriet, nahezu verpönt war, etablierte sich in der DDR eine ganz andere Art von Lied, das sozialistische Lied, etwa bei den Jungen Pionieren oder in Vereinen. Doch mit dem Niedergang der DDR brach auch diese musikalische Kultur schnell zusammen.
Mit Kopfhörern herumzulaufen, ist heute für viele normal. „Musik läuft überall. Doch das Singen,zum Beispiel Schlaflieder für die Kinder abends am Bett, das wird kaum noch praktiziert“, hat Peggy Luck beobachtet. Sie ist Folksängerin aus Leipzig und Mitbegründerin der DeutschFolk-Initiative und zudem im Vorstand von PROFOLK e.V., einer Interessenvertretung von Musikern, Veranstaltern und Musikjournalisten der Sparten Lied, Folk und Weltmusik. Und auch, dass die Freude am Gesang den Jüngsten manchmal im Musikunterricht an der Schule nahezu abtrainiert wird. „Kinder sagen dann: Ich kann nicht singen, oder ich kann nicht Noten lesen, wenn die Lehrerin sie schlecht bewertet hatte.“
Legt die Schule in Deutschland zu wenig Wert auf die Vermittlung von Volksliedern als Teil des kulturellen Erbes? Thorsten Heil, der Pressesprecher der Kulturministerkonferenz, verweist auf die Lehrpläne der Schulen, die in allen 16 Bundesländern verschieden seien. Nur in Bayern und Baden-Württemberg gibt es Vorgaben, dass „regionale Musik“ im Musikunterricht gefördert werden soll. Dass nur Bayern und Baden-Württemberg deutsche Volkslieder mittels Rahmenplänen in den Schulen konkret vorsehen, bestätigt auch Anja Bensinger-Stolze von der GEW, der Gewerkschaft Erziehung Wissenschaft. Doch nicht nur im Süddeutschen, auch in Köln steht das Liedersingen im regionalen Dialekt hoch im Kurs – wer einmal auf dem Karneval in Köln war und „Da simmer dabei, dat is prihimaaaa, Vivaaaa Colonia“ schmetterte, kann dies bestätigen.
Bensinger-Stolze verweist darauf, dass durch die nationalsozialistische Vereinnahmung der deutschen Volkslieder generell eine ambivalente Haltung gegenüber Volksmusik und dem damit verbundenen Heimatverständnis verbreitet ist. Sie berichtet dann von einer persönlichen Erfahrung: „Bei mir gegenüber ist eine Schule, und dort sehe ich mehrmals in der Woche eine Klasse, die Lieder singt und dazu tanzt. Da sieht man sofort, wie viel Freude das den Kindern macht“, so Bensinger. Tatsächlich wird in Lehrerforen im Internet heiß diskutiert, ob man Lieder wie „Bunt sind schon die Wälder“, „Am Brunnen vor dem Tore“, „Im Märzen der Bauer die Rößlein einspannt“ oder „Zogen einst fünf wilde Schwäne“ den Kindern heute zumuten könne. Dabei wäre ein Liedtext wie „Zogen einst fünf wilde Schwäne, Schwäne leuchtend weiß und schön. Sing, sing, was geschah? Keiner ward mehr gesehn“ nicht nur für den Musikunterricht geeignet, sondern auch für die Geschichtsstunde, denn das Lied aus Ostpreußen wurde von den Nazis eliminiert, in den 1970er-Jahren dann aber von der Friedensbewegung und Sängern wie Hannes Wader oder dem Duo Zupfgeigenhansl wiederbelebt.
publiziert in: Schwäbische Zeitung, 22. April 2023