Weit übers Ziel hinaus

Die aktuelle Sexismus-Debatte treibt mitunter seltsame Blüten.

 

Ich auch? Viel wurde in letzter Zeit geschrieben, von Männern und Frauen, zu der Frage, die die Welt bewegt. Hat er, oder hat er nicht? Dass Vergewaltigung oder sexuelle Belästigung Delikte sind, die bestraft werden müssen, steht außer Frage. Übrigens gilt dies für beide Geschlechter, für Männer und Frauen. Wenn man sich die Statistik ansieht, fällt allerdings ein starkes Ungleichgewicht zuungunsten des männlichen Geschlechts auf. Sind wirklich alle Männer böse und alle Frauen gut? Kann eine Frau überhaupt einen Mann vergewaltigen? Gibt es so etwas wie einen weiblichen Voyeur überhaupt? Fragen, die auch im Jahr 2017 noch nicht endgültig geklärt sind.


Dass allerdings ein preisgekröntes Gedicht aus dem Jahr 1951, auf Spanisch verfasst, eine sexuelle Belästigung darstellt und von der Außenwand einer Berliner Hochschule entfernt werden muss, geht selbst vielen Frauen zu weit. Das Gedicht besteht nur aus vier Worten, nämlich Alleen, Blumen, Frauen und Bewunderer. Studentinnen des Asta der Alice-Salomon-Hochschule für soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung und Bildung fühlten sich durch solche Lyrik zu, so wörtlich, „bewunderungswürdigen Objekten degradiert“. Die Schlussfolgerung, die sie aus diesem Oxymoron ziehen: Das Gedicht muss von der Hauswand entfernt werden. Die Direktion der Hochschule gibt dieser Forderung nach.


Die Frage ist nun: Ist Lyrik in Deutschland nicht mehr frei? Ist nicht gerade die Lyrik die vielfältigste und vor allem die am vielfältigsten interpretierbare Kunstform überhaupt? Eugen Gomringer gilt als einer der innovativsten Lyriker des deutschen Sprachraums des 20. Jahrhunderts. Im Gedicht hat er auf minimalistische Art und Weise lediglich Substantive aneinandergereiht, die in vielfältiger Art und Weise interpretiert werden können. Dass nun Studentinnen der Hellersdorfer Hochschule das Gedicht in einer sehr eindimensionalen Art interpretiert haben, spricht Bände über ihr eigenes Kunstverständnis – man sollte Poesie eben nicht wortwörtlich lesen wie ein Parteiprogramm.

Die Frage ist darüber hinaus: Wenn Hochschulen Gedichte – in diesem Fall ein preisgekröntes Gedicht – selber zensieren, wie soll dies erst in der Literatur weitergehen? Schließlich strotzt gerade die Literaturgattung des Liebesromans – die übrigens mehrheitlich von Frauen gelesen wird – nur so von Sexismus. Ich will an dieser Stelle nicht ins Detail gehen.


Eine spontane Reaktion der Bewunderung brachte kürzlich auch einen Berliner Politiker in die Bredouille, als er nämlich eine jüngere, hübsche Politikerin als jung und hübsch bezeichnete. Vielleicht war die Bemerkung ungeschickt oder zu spontan, doch der Wirbel, den sie auslöste, spricht Bände über die derzeitige Lage am Geschlechtermarkt. Ich frage an dieser Stelle: Was wäre geschehen, wenn eine Politikerin einen Politiker als jung und hübsch bezeichnet hätte? Wahrscheinlich wäre es nicht mal eine Randnotiz einer Zeitung wert gewesen. Und ist dies nicht auch eine Diskriminierung? Wird hübschen Männern überhaupt keiner Wertschätzung mehr zuteil?


Wenn es um sexuelle Delikte geht, hat man es in Deutschland dagegen mit einem Bündel an Vorurteilen, wenn nicht gar Vorverurteilung zu tun. Schon mal von einer Voyeurin gehört? Oder einer Exhibitionistin? Weibliche Versionen dieser Straftäter existieren in der deutschen Zivilgesellschaft nicht. In der Praxis sieht das so aus: Steht ein nackter Mann einer Frau gegenüber, ist der Mann schuldig: Exhibitionist! Steht eine nackte Frau einem Mann gegenüber, ist – der Mann! – schuldig. Voyeur! Für Frauen sind solche Sexualdelikte in 99 Prozent der Fälle straffrei.


Fragen über Fragen, und wahrscheinlich wird so mancher meinen, es gäbe in der derzeitigen Weltlage brisantere Themen zur öffentlichen Diskussion. Deshalb schließe ich an dieser Stelle und bewundere alle schönen Menschen und alle schönen Dinge.

publiziert in: Forum Magazin, 24.Juli 2017

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